Sie sind hier
Fibonacci — Anwendung der Fibonacci-Methode im Trading (Thomas May 7)
Im Folgenden setzen wir unser Beispiel fort, um Einstieg, Konstruktion der Retrace‑ ments und Extensionen sowie Ausstiegsbedingungen für die Phasen des möglichen neuen Aufwärtstrends darzustellen .
Thomas May
Anwendung der Fibonacci-Methode im Trading (Teil 2)
Übergang in einen Aufwärtstrend – Kursziele, Stopplevel und Exitpunkte
Seit dem Tiefpunkt P1 beginnt der Wert anzusteigen und erreicht neue lokale Hochpunkte. Da man erst Extensionen einzeichnen kann, wenn die Bewegung durch eine Korrektur abgelöst wurde, muss der Trader warten, bis eine Korrektur von mindestens 23,6 Prozent bis 38,2 Prozent vollzogen wurde. Wir gehen davon aus, dass der Kurs von einem Punkt P2 zurücksetzt und mehr als 23,6 Prozent der gesamten Aufwärtsbewegung P1–P2 korrigiert. Damit haben wir die hinreichende Bedingung dafür, Extensionen für die Strecke P1–P2 einzuzeichnen.
Nach dem in der Charttechnik bekannten Muster der Measuring Moves – also der sich preislich gleichförmig wiederholenden Bewegungen – können in Abhängigkeit von der Ausdehnung dieser Korrektur zwei kurzfristige Ziele defi‑ niert werden:
Setzt der Wert nur an das 61,8‑Prozent‑Level zurück, ehe sich der Aufwärtstrend fortsetzt, wäre nach einem Ausbruch über P2 die 161,8‑Prozent‑Extension als erstes Kursziel zu erwarten .19 Erfolgt eine Korrektur bis an das 38,2‑Prozent‑ Retracement, wird die 138,2‑Prozent‑Extension zum ersten Ziel der Aufwärtsbewegung.
Eine kurze Korrektur ermöglicht also das Erreichen eines weiter entfernten ersten Zielbereichs, eine lange Korrektur sorgt zunächst für weniger zukünftige Reichweite.
Abbildung 19: Measuring Move und Beispiel für Verhalten an und nach Überschreiten entfernter Extensionslevel, VW-Aktie (Tages-Chart)
Hinweis: Sollte die Korrektur P2–P3 nicht in die unmittelbare Nähe eines der beiden Retracements von P1–P2 zurückgeführt haben, bietet es sich an, die Handelsspanne P1–P2 und sämtliche darauf berechneten Extensionen an den Punkt P3 parallel zu projizieren beziehungsweise zu verschieben. In Guidants können Sie dafür das Werkzeug »Fibo-Projektion« verwenden, mit dem sich die Länge der ersten Handelsspanne messen und direkt an den Ausgangspunkt der neuen Bewegung verschieben lässt. So können auf der Basis der ersten Bewegung weiter entfernte oder leicht versetzte Kursziele eingetragen werden. Dieses und viele andere Werkzeuge lassen sich in Guidants einfach per Drag & Drop in die obere Menüleiste ziehen, damit Sie Ihre favorisierten Werkzeuge immer griffbereit haben.
Nachdem P1–P2 nicht mehr als 61,8 Prozent retraced wurde (Anfangsbedingung für einen Trendwechsel), erfolgt der Long‑Einstieg prozyklisch mit dem Überschreiten des 38,2‑Prozent‑Levels von P2–P3 für den risikoaffinen Trader oder bei Ausbruch über das Hoch P2 in der konservativeren Variante. Der Stopp liegt knapp unter dem 38,2‑Prozent‑Level von P1–P2. Ab dem Zeitpunkt, da P2 überschritten wurde, kann eine neue Retracementspanne vom Ausgangspunkt P1 zum neuen Verlaufshoch P4 gezogen werden und man erhält Unterstützungsniveaus, die für den gesamten Aufwärtstrend relevant sind.
Auch für die kurze Preisspanne P3–P4, die zum Ausbruch über P2 geführt hatte, werden die Retracements abgetragen. Deren 38,2‑Prozent‑Niveau kann bereits Aufschluss über das weitere Kurspotenzial liefern: Wird es nicht mehr unterschritten, ist der Aufwärtstrend intakt. Erfolgt dagegen ein Bruch, bedeutet dies, dass die Bewegung P3–P4 neutralisiert wurde. Einerseits steigt damit die Wahrscheinlichkeit, dass P3 wieder angelaufen wird und der Ausbruch nur eine Finte war. Ein weiterer Anstieg über P4 ist jedoch immer noch möglich, solange die gesamte Bewegung P1–P4 nicht mehr als 61,8 Prozent retraced wurde. Damit würde der Wert für diesen Fall also in einer kurzfristigen Seitwärtskorrektur feststecken. Das Signal zur Wiederaufnahme des Aufwärtstrends wäre der Anstieg über das 38,2‑Prozent‑Niveau der Korrektur, die bei P4 begann, und damit der nächste Punkt für einen Long‑Einstieg.
Ein Trader, der nur auf den Ausbruch über P2 und entsprechend kurzfristiges Kurspotenzial spekuliert hat, kann das 38,2‑Prozent‑Level von P3–P4 als sehr engen Stopp verwenden. Er hat damit ein sehr nah am Kurs liegendes Ausstiegs‑ beziehungsweise Stoppniveau, welches ihm ein ausgezeichnetes CRV liefert. Denn mit dem Ausbruch über P2 setzt er auf die zügige und dynamische Fortsetzung der Aufwärtsbewegung P1–P2. Ein Unterschreiten des 38,2‑Prozent‑ Retracements der Strecke P3–P4 würde dem zunächst widersprechen und eine Seitwärtsphase im Bereich von P3 einläuten.
Zuletzt wird eine signifikante Trendlinie von P1 zu P3 gezogen (vgl. Abbildung 20, dunkelgrüne Trendlinie). Solange diese nicht unterschritten wird, ist der Trend intakt. Ihr Bruch würde dagegen eine Korrekturphase indizieren.
Nehmen wir nun an, dass sich der Trend fortsetzt und erst oberhalb von P2 eine zweite Korrekturphase bei P4 einsetzt, welche die bisherige dreiteilige Bewegung zu korrigieren beginnt.
Sollte die Korrektur preislich nicht mehr als 61,8 Prozent von P3–P4 zurückführen, gibt es keinen Grund, das Investment zu beenden. Dies gilt auch für alle anderen Teilbewegungen eines Trends . Besonders bullish ist es, wenn sich die Korrekturphase auf einem sehr hohen Niveau abspielt (also nur um 38,2 Prozent zurückführt).
Ein Trend, bei dem die Teilbewegungen nicht mehr als 61,8 Prozent retraced werden (38,2‑Prozent‑Level der Spanne wird nicht erreicht), zeigt damit eine besondere Stärke und kann insbesondere die Widerstandsmarken früherer ent‑ gegengesetzter Trends (zum Beispiel eines großen Abwärtstrends) ohne Mühe durchbrechen.
Setzt jetzt ein neuer Anstieg ein, stellt sich direkt die Frage, wie weit dieser führen kann, falls es zu einem Ausbruch über P4 kommt. Zu den Extensionen von P1–P2 werden hierzu die Extensionen der gesamten dreiteiligen Bewegung P1–P4 nach oben abgetragen. Damit erhält man mittelfristige Zielmarken, die bei Erreichen für Gewinnmitnahmen genutzt werden können.
Steigt der Kurs nach einer Zwischenkorrektur an P5 weiter über P4 an, kommen die Extensionen von P3–P4 ins Spiel sowie die Measuring‑Move‑Regel für das erste Ziel dieser Teilstrecke (in Abbildung 20: Korrektur bis P5 am 61,8‑Prozent‑Level, das nach Ausbruch über P4 zunächst Potenzial bis 161,8 Prozent eröffnet). Jetzt kann auch eine steilere signifikante Trendlinie von P3 nach P5 gezogen werden.
Abbildung 20: Mehrteiliger Trend: Retracements & Extensionen der ersten Bewegung (hellblau), zweiten Bewegung (grün), Retracements der dritten, noch nicht abgeschlossenen Bewegung (violett) und Retracements für zusammengefasste Bewegung (P3–P6) (schwarz) und die komplette Trendphase (blau) sowie signifikante Trendlinien (grün, hellgrün)
Im Rahmen dieser Bewegung wird zudem das 161,8‑Prozent‑Extensionslevel von P1–P2 überwunden und so werden die nächsthöheren Extensionen 200 Prozent, 261,8 Prozent und das weit entfernte 423‑Prozent‑Niveau als Zielmarken anvisiert. An jedem der Ziele kann eine Pause oder Korrektur innerhalb des Trends beginnen. Im »schlimmsten« Fall endet die Aufwärtsbewegung sogar auf einem dieser Niveaus.
Aus meiner Sicht kommt dabei der 423-Prozent-Extension eine besondere Bedeutung zu: Dort wird oftmals das maximale Potenzial einer Ursprungsbewe‑ gung (hier also P1–P2) ausgeschöpft und es folgt eine zeitlich wie preislich ausgedehnte Gegenbewegung. Dieses Verhalten bedeutet nicht, dass Trends immer am 423‑Prozent‑Level enden. Aber große Korrekturen zusammengesetzter Trends erfolgen häufig an dieser Stelle und führen an das 61,8‑Prozent‑ oder 38,2‑Prozent‑ Niveau dieser Trends zurück, bevor eine weitere Trendbewegung starten kann.
Im Intraday‑Bereich beziehungsweise beim kurzfristigen Trading werden zeitlich enge Trendphasen gehandelt . Daher kann es sehr hilfreich sein, im Fall von initialen Bewegungen, deren Fortsetzung man handeln möchte, immer schon die 423‑Prozent‑Extension zur Potenzialanalyse in den Chart einzuzeichnen. Sollte diese im Rahmen einer kurzfristigen Trendphase erreicht werden, bieten sich dort Gewinnmitnahmen beziehungsweise ein Einstieg in Gegentrendrichtung an. Wird das Level dagegen überschritten, ist dies ein deutliches Zeichen dafür, dass der Trend noch längst nicht ausgereizt ist und das 685‑Prozent‑Level an‑ gesteuert wird. Daher sollte man antizyklische Positionen an der 423‑Prozent‑Extension eng absichern (zum Beispiel mit einem Stopp am 38,2‑Prozent‑Level der einsetzenden Gegenbewegung).
Abbildung 21: Mehrteiliger Trend mit fünf aufeinanderfolgenden trendbestätigenden Bewegungen (blauer Pfad) und entsprechender Extensionsberechnung auf Basis der Einzelbewegungen und der zusammengefassten Bewegung P1–P4 (orangefarbene Extensionen
Lassen sich über die Extensionen von P1–P2, P1–P4 und P3–P4 Cluster bilden, können dort Teilgewinne mitgenommen werden.
Weitere nützliche Informationen erhält man, wenn man die Längen der Teilbewegungen vergleicht:
Sollte P3–P4 eine ähnliche Länge wie P1–P2 haben und die Trendlinie im weiteren Verlauf nicht gebrochen werden, kann sich der Trend oberhalb von P4 in einer Abfolge weiterer ähnlich langer Bewegungen wie P3–P4 fortsetzen. Erst der Bruch der signifikanten Trendlinie P3–P5 würde dann für das Ende dieser mehrteiligen Trendphase und des Long‑Trades sprechen.
Falls P3–P4 mindestens 161,8 Prozent der Länge von P1–P2 aufweist, folgt häufig eine dritte Aufwärtsbewegung in Trendrichtung, die in der Regel eher kurz ausfällt. Ausgehend von P5 kann diese bis P4 führen oder die gleiche Länge wie P1–P2 aufweisen und damit knapp oberhalb von P4 enden. Daher sollte eine kurzfristige Long‑Position beim Unterschreiten von P5 beziehungsweise beim Bruch der steilen Trendlinie P3–P5 geschlossen werden. Denn in dieser Konstellation kann eine Korrektur der gesamten Aufwärtsbewegung folgen, die mindestens 38,2 Prozent von P1–P6 korrigiert . Umgekehrt kann ein prozyklischer Short‑Einstieg nach dem Unterschreiten der signifikanten Trendlinie P3–P5 und dem 61,8‑Prozent‑Level der Aufwärtsbewegung P3–P6 erfolgen, in der Erwartung der Korrektur der gesamten Aufwärtsstrecke. Übergeordnet sollte man sich bei der Anwesenheit einer solch »überlangen« und starken Trendphase darauf einstellen, dass der Trend nach Abschluss der Korrektur fortgesetzt wird und weit über P6 führen kann.
Grundsätzlich leitet eine 61,8‑Prozent‑Korrektur einer Teilbewegung nur eine Seitwärtsphase ein . Erst wenn der Ausgangspunkt der Teilbewegung und die zugehörige signifikante Trendlinie unterschritten wurden, kann von einer größeren Korrektur ausgegangen und damit zum Beispiel eine kurzfristige Position geschlossen werden.
Positionstrader und langfristige Investoren sollten zusätzlich immer das Verhalten am 61,8‑Prozent‑Level des gesamten Trends (hier: P1–P6) beachten: Dies ist, wie bereits beschrieben, das Mindestkorrekturziel von Bewegungen . Daher sind Trends, die oberhalb der Marke verlaufen, vollkommen intakt. Setzt der Trend im Rahmen einer Korrektur lediglich an dieses Niveau zurück, so holt er im Grunde nur Schwung, um alsbald die nächste übergeordnete Trendphase einzuleiten.
In-Time-Retracement – die besondere Ausstiegsregel
Die Frage nach dem Ausstieg aus einer Position kann also über den Bruch von Retracements, Trendlinien oder das Erreichen der Extensionen einer initialen Bewegung oder eines Clusters geklärt werden.
Doch nicht nur die preisliche Ausdehnung, auch die zeitliche Dauer einer Gegenbewegung kann Aufschluss darüber geben, ob der aktuelle Trend beendet wurde und damit eine Trendwende vorliegt. Dieses antizyklische Setup, das Glenn Neely in seinem Buch Mastering Elliott Wave als In-Time-Retracement bezeichnet, ist aus meiner Sicht eine der wirkungsvollsten und valides‑ ten Vorgehensweisen, um eine Trendwende zu identifizieren und entsprechend zu handeln. Ist man dagegen gerade im ursprünglichen Trend investiert, sollten bei jedem Trader oder Anleger die Alarmglocken läuten, falls eine solche Marktphase einsetzt. Denn sie kann das plötzliche Ende des vorherigen Trends ankündigen.
Abbildung 22: Short-Signal durch In-Time-Retracement
Wir betrachten den Übergang von einem Aufwärtstrend in eine potenzielle Korrektur. Markieren Sie die Tiefpunkte der Korrekturen innerhalb der Aufwärts‑ bewegung, die dem Hochpunkt des Trends vorangingen. Messen Sie die zeitliche Länge, welche die Bewegungen jeweils von ihrem Tief bis an das absolute Hoch umfassten. Hierfür können Sie die Handelsspanne mit einem Fibonacci‑Time‑Werkzeug – analog zur Erstellung der Matrix – abmessen. Spiegeln Sie diese Zeitspannen um das Hoch nach rechts, um die Dauer der Aufwärtsbewegung und des aktuellen Rückgangs zu vergleichen. Markieren Sie zusätzlich die zukünftige Zeiteinheit, an der 100 Prozent der vorherigen Zeitspannen erreicht werden (vgl. Abbildung 22).
So haben Sie in Kombination mit dem Startpunkt der letzten Aufwärtsbewegung eine kleine Zeit‑Preis‑Koordinate erstellt, deren Kreuzungspunkte für die Interpretation des weiteren Kursverlaufs wichtig sind: Unterschreitet die Kor‑ rektur den Ausgangspunkt der letzten Aufwärtsbewegung vor dem Hoch in weniger als 100 Prozent der Zeit, welche die letzte Aufwärtsbewegung vor dem Hoch andauerte, ist dies ein starkes Trendwendesignal. Je weniger Zeit benötigt wurde, umso dynamischer ist die neue Abwärtsbewegung. Im Beispiel aus Abbildung 22 wurde der Startpunkt der letzten Bewegung vor dem Hoch sogar in unter 61,8 Prozent der Zeit durchbrochen – ein enorm bearishes, signifikantes Verkaufs‑ beziehungsweise Short‑Einstiegssignal.
Sollte das Tief dagegen nicht in der gleichen Zeit unterschritten werden, liegt nur eine normale Korrektur vor, der schlicht die notwendige Dynamik für eine direkte Trendwende fehlt.
Lesen Sie auch...
Fibonacci-Analyse und -Trading (Thomas May 1)
Fibonacci — Berechnung von Retracements (Thomas May 2)
Fibonacci — Berechnung von Extensionen (Thomas May 3)
Fibonacci — Umsetzung in die Praxis (Thomas May 4)
Fibonacci in der Diagonale: Trendlinien, Fans und Fibonacci-Matrix (Thomas May 5)
Fibonacci — Anwendung der Fibonacci-Methode im Trading (Thomas May 6)