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Fibonacci — Umsetzung in die Praxis (Thomas May 4)
Nach der Berechnung der Retracement-Levels und Extensions erklärt und veranschaulicht Thomas May nun deren praktischen Zweck im Handel. Wie gewohnt geht er dabei sehr ins Detail, so dass jeder Leser genau lernt, wie er mit Fibonacci-Levels handeln kann.
Thomas May
Umsetzung in die Praxis
Fibonacci‑Werkzeuge ermitteln:
- künftige potenzielle Kursziele (Extensionen) für abgeschlossene Bewegungen (161,8 Prozent, 200 Prozent, 261,8 Prozent, 423 Prozent)
- Preisniveaus, die im Rahmen einer Korrektur erreicht werden sollten (38,2‑Prozent‑Retracement)
- Preisniveaus, an denen eine einsetzende Korrektur stoppen sollte, damit die Bedingungen für eine intakte Bewegung weiterbestehen (61,8‑Prozent‑Retrace‑ ment und das 0‑Prozent‑Retracement als Startpunkte von Bewegungen)
- die grundlegende Unterscheidung, ob eine Korrektur oder eine Bewe‑ gung mit entsprechendem weiteren Kurspotenzial vorliegt (Verhalten am 61,8‑Prozent‑Retracement)
Die Analyse erfolgt also in beide Richtungen und bezieht sich in ihren mathema‑ tischen Ergebnissen immer auf die preisliche Länge der (ersten) Bewegung. Sie hat unmittelbare Auswirkung auf das Potenzial aller Folgebewegungen, sei es nun in oder entgegen ihrer Trendrichtung.
Das erste Ziel ist also, Anfangs‑ und Endpunkte von Bewegungen oder Trends im Chart aufzuspüren. Bitte verwenden Sie deshalb Candle- oder Barcharts, da diese immer die absoluten Höchst‑ und Tiefstkurse jeder betrachteten Zeiteinheit aufzeigen.
Das grundsätzliche Problem ist dabei, dass sich jede Kursbewegung in einzelne, zeitlich und preislich kürzere Teilbewegungen aufgliedern lässt, die selbst aus Trend‑ und Korrekturphasen bestehen.
Was im 5‑Minuten‑Chart einer treppenförmigen Aufwärtsbewegung gleicht, die von vielen Seitwärtsphasen oder Korrekturen unterbrochen wird, ist zum Beispiel im 30‑Minuten‑Chart nicht mehr als solche zu erkennen, sondern nur noch eine trenddynamische Abfolge steigender weißer Kerzen. Je größer die Zeitebene, innerhalb deren der Chart angezeigt wird, umso mehr Zwischenbewegungen werden zusammengefasst und für das Traderauge nicht mehr sichtbar. Daher sollte man im Day‑ und Swingtrading des Öfteren die Zeitebenen wechseln (zum Beispiel von fünf Minuten auf eine Minute oder von einer Stunde auf 15 Minuten), um den feinkörnigeren Chart ebenfalls zu untersuchen. Wird der aktuelle Trend zum Beispiel im Tages‑Chart nur als Abfolge steil steigender weißer Kerzen angezeigt, kann der Blick in den 1‑Stunden‑Chart die ein oder andere Gegenbewegung sichtbar machen, die in der gröberen Einstellung »verschluckt« wurde. So erhält man doch noch Marken, auf deren Basis Handelsspannen ermittelt und entsprechende Zielbereiche hochgerechnet werden können.
Vom Groben ins Feine und vom Großen ins Kleine
Dennoch ist es sinnvoll, die wichtigsten Start‑ und Endpunkte sowie die langfristig markanten Trendphasen zunächst in einer möglichst großen Zeiteinheit, zum Beispiel im Wochen‑Chart, ausfindig zu machen, ehe man in untergeordnete Zeitebenen wechselt. Zwar fehlt den großen Zeitebenen die exakte Darstellung aller aufgetretenen Einzelbewegungen, dafür fassen sie viele kleinteilige Bewegungen automatisch zusammen. Was man an Genauigkeit einbüßt, gewinnt man an Übersichtlichkeit.
Und zu Beginn des Umgangs mit Fibonacci‑Werkzeugen ist es wichtiger, eindeutige und übersichtliche Trends und Korrekturen zu analysieren und zu vermessen, um ein Gespür für die Methode und die grundsätzlichen Operationen zu erhalten.
Dazu arbeitet man sich immer von der Vergangenheit in die Gegenwart, im Chart also von links nach rechts. Die Analyse der Vergangenheit kann zunächst in einer größeren Zeiteinheit erfolgen. Dort macht man sich auf die Suche nach markanten Extrempunkten im Kursverlauf. Man markiert und verbindet die höchsten und niedrigsten Kurse, die über den angezeigten Zeit‑ raum mehrerer Monate oder Jahre auftreten. Vorherrschende Aufwärtstrends vermisst man von links unten nach rechts oben und Abwärtstrends von links oben nach rechts unten. Die Extrema der Swings sollten dabei idealerweise immer sowohl den Endpunkt eines Retracements als auch den Startpunkt eines neuen Retracements in die entgegengesetzte Richtung darstellen (vgl. Abbildung 9).
Abbildung 9: Markante Extrema und entsprechende frühere und aktuelle Retracements, S&P 500 Index (Monats-Chart)
Ist die Analyse der Haupttrends in einer höheren Zeitebene abgeschlossen, kann man sich der detaillierteren Ansicht in den kleineren Ebenen widmen. Hier sollte der Fokus auf den Bewegungen der jüngeren Vergangenheit liegen. Einerseits will man ja nicht nur analysieren, sondern auch einen konkreten Trade oder ein Investment vorbereiten.
Andererseits sind die jüngeren Bewegungen aussagekräftiger und relevanter für den künftigen, insbesondere den kurzfristigen Trendverlauf.
Zudem hat man mit der Analyse der großen Trends in den übergeordneten Zeiteinheiten bereits viele für die Zukunft relevante Marken eruiert und in den Chart abtragen können.
Hier zeigt sich ein weiterer Vorteil der Fibonacci‑Analyse, nämlich dass bei der Arbeit vom Großen ins Kleine abgeleitete horizontale Marken später zeitebenenübergreifend relevant sind und man sich mit der Herleitung dieser Marken viel Aufwand spart.
Startpunkte und Endpunkte identifizieren
In der Regel beginnen Trendphasen mit einem signifikanten, absoluten Extrempunkt, dem ein gegen diese neue Bewegung gerichteter Trend vorausging. Und sie enden mit einem Extrempunkt, dem eine Korrektur oder ein neuer Gegentrend folgt. Solche Preisspitzen und die entsprechende Trendumkehr sind unabhängig von der Zeiteinheit leicht zu erkennen und einfach mit Fibonacci‑Preisspannen zwischen diesen Extrema zu verbinden.
Gerade bei mittel‑ bis langfristigen Trends ist jedoch zu beobachten, dass mehrere lokale Extrempunkte nebeneinander auftreten, ehe der Kurs einen Richtungswechsel vollzieht. Der Kurs steigt zum Beispiel im Rahmen eines Aufwärtstrends auf ein neues Hoch, ehe nach einer Korrekturphase ein weiterer Anstieg folgt, der den vorherigen Extremwert allerdings nicht mehr überschreiten kann . Erst danach erfolgt die eigentliche Richtungsänderung – und zwar ausgehend von einem tieferen, weiter rechts gelegenen Hoch (am Ende eines Aufwärtstrends) beziehungsweise von einem höheren, weiter rechts gelegenen Punkt (am Ende eines Abwärtstrends). Diese Punkte sind in der Regel wichtiger für die Bestimmung von Anfang, Ende und Potenzial des neuen Trends . Daher sollten sie zusätzlich zu den Retracementspannen der Extrema (absolutes Hoch bis absolutes Tief im Abwärtstrend beziehungsweise absolutes Tief bis absolutes Hoch im Aufwärtstrend) eingetragen werden.
Um diese »echten« Startpunkte, zum Beispiel im Übergang zu einem neuen Aufwärtstrend, herauszufiltern, können Sie das Fibonacci‑Tool an das absolute Tief anlegen und zum folgenden Hoch ziehen, dem der zweite Abwärts‑Move folgte, welcher nicht mehr unter das absolute Tief ging . Sollte damit der Anstieg nach dem absoluten Tief mehr als 61,8 Prozent retraced worden sein und sich die neue Aufwärtsbewegung trotzdem fortsetzen, kann das absolute Tief nicht der Startpunkt der Bewegung sein . Dann ist entweder das höhere Tief der Startpunkt oder Sie müssen weiter rechts im Chart nach einem potenziellen weiteren Startpunkt des Trends suchen, der die Bedingung erfüllt, durch eine nachfolgen‑ de Korrektur nicht mehr als 61,8 Prozent retraced worden zu sein (vgl. Abbildung 10).
Abbildung 10: Versetzter höherer Endpunkt im Abwärtstrend; Bestimmung durch Verhalten am 38,2-Prozent-Retracementlevel
Die Ursache für dieses Phänomen ist der zunehmende Verlust an Momentum in der Endphase eines Trends . Der Entwicklung einer Trendwende, beispielsweise vom intakten Abwärtstrend in eine neue Aufwärtstrendphase, liegt eine grundlegende Änderung des Marktverhaltens zugrunde . Die Dynamik der Baisse wird sukzessive abgebremst. Der erste Moment, in dem dieser Umschwung im Chart sichtbar wird, ist der Anstieg nach einem neuen abso‑ luten Tief. Sollte dieser allerdings mehr als 61,8 Prozent korrigiert werden und sich die Kurse wieder dem alten Verlaufstief nähern, ist dies kein Zeichen für neue Trenddynamik und widerspricht der Regel, dass Bewegungen nicht mehr als 61,8 Prozent retraced werden. Der alte Abwärtstrend ist zwar schwächer geworden, der komplette Umschwung hin zur Trendwende aber noch nicht vollzogen. Die Ausbildung eines nachfolgenden höheren Hochs, das Ausbleiben einer Korrektur von über 61,8 Prozent sowie der folgende weitere Anstieg sind jedoch klare Anzeichen, dass hier ein neuer Trend begann.
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